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Der Vorabend von Jom Kippur

Der Ursprung des Kol Nidre (alle Gelübde), das den Tag von Kippur am Abend eröffnet, ist unbekannt. Es bittet Gott, alle Gelübde zu löschen, die Menschen von diesem Jom Kippur bis zum nächsten ablegen könnten. Man hat gedacht, dass es aus der Zeit der Maranen stammt, den Juden Spaniens, die im 15. Jahrhundert gezwungen wurden, sich taufen zu lassen, zu sterben oder ins Exil zu gehen. An Kippur baten sie den Herrn, das Versprechen, dass sie unter Zwang abgelegt hatten, nicht als gültig anzusehen. Aber Rabbi Natronai, ein Rabbi der Akademie von Sura in Babylonien im 8. Jahrhundert, einer der ersten Schöpfer eines Siddur (Gebetsbuch) sagt, dass dieses Gebet schon zu seiner Zeit existierte. Die Kabbalisten haben eine andere Erklärung vorgeschlagen: das Gebet soll den Herrn daran erinnern, dass Israel seine Rettung einer Ungültigerklärung von Gottes eigenem Schwur verdankt. Sagte er nicht zu Mose nach der Sünde des Goldenen Kalbs: Ich werde sie vertilgen (Ex 32,10)? Wie kann der Herr ein Wort, das aus seinem eigenen Mund kam, zurücknehmen?

Der Midrasch gibt eine Antwort: Und Mose versuchte, den Herrn, seinen Gott, zu besänftigen (Ex 32,11). Als Israel das Kalb machte, versuchte Mose, den Herrn zur Vergebung zu überreden. Aber der Herr sprach: “Mose, ich habe geschworen: wer immer einem andern Gott Opfer bringt, wird vernichtet werden (Ex 22,20???). Ich kann den Eid, der aus meinem Mund kam, nicht zurücknehmen”. Mose antwortete: “Herr des Universums, hast du mir nicht die Befugnis gegeben, Schwüre für nichtig zu erklären, als du sagtest: Wenn ein Mann ein Gelübde vor Gott ablegt oder wenn er schwört… soll er sein Wort nicht brechen (Nb 30,2). Das heißt, dass er selbst seinen Schwur nicht brechen kann, aber wenn er einen Weisen befragt, der kann es ihm erlauben. Und wenn ein Weiser will, dass seine Entscheidungen befolgt werden, muss er sie selbst befolgen. Da du mir die Macht verliehen hast, Schwüre für nichtig zu erklären, ist es offenbar, dass du deinen Schwur für nichtig erklärst, da du andern die Gewalt verliehen hast, sie für nichtig zu erklären.” Dann zog Mose sein Richterkleid an und setzte sich als Richter nieder, und Gott stand vor ihm wie einer, der die Nichtigerklärung seines Schwures erbittet, wie es heißt: Und ich saß auf dem Berge (Dt 9,9).. Und was sagte Mose? Ein sehr hartes Wort sagte er ihm. Er (Mose) sagte (zu Gott): “Bereust du deinen Schwur?” Und der Herr antwortete: “Ja, ich bereue das Übel, das ich meinem Volk antun wollte, wie ich sagte”. Als Mose das hörte, sagte er (zu Gott): “Ich spreche dich los, ich spreche dich los”. (Exodus Rabba über Ex 32,11).

Verzeihung ist Gottes Reue, seine Schwäche, seine Demut.

Sr. Anne Catherine Avril, NDS